Am Neckar klettern die Hänge mit bis zu 40 Grad Neigung empor: Dort wachsen erstklassige Weine. Besuch bei den Steillagen-Winzern in Stuttgart-Mühlhausen - Jährliches Weinfest in Stuttgart-Mühlhausen (am zweiten Augustwochenende, dieses Jahr am 11. und 12. August). Mit Führungen und Traktortouren.
Die Stiege ist schon ein wenig ausgetreten. Und es geht ganz schön steil nach oben. Aber man kommt auch deshalb nur langsam voran, weil man sich ständig umdrehen muss – so spektakulär ist die Aussicht. Dort unten fließt idyllisch der Neckar, auf dem kleine Boote schaukeln und Ruderer ihre Bahnen ziehen. Gleich dahinter liegt der Max-Eyth-See. Und über allem wölbt sich ein weiter Horizont mit einem blauen Himmel und Schäfchenwolken. Ist das schön hier! Der Fluss im Rücken, die wildromantischen Muschelkalk-Mauern und die alten Rebstöcke im Blick. Noch sind die Trauben nicht süß. Ihnen fehlen jetzt, Mitte August, noch ein paar Wochen Sonne und Wärme. Die Weinberge in Stuttgart-Mühlhausen gehören zur berühmten Lage Cannstatter Zuckerle, die einige der besten Weine der Region hervorbringt. Die Südwestlage, die nährstoffreichen Muschelkalkböden und das Mikroklima am Wasser bieten perfekte Bedingungen für Rot- und Weißweine. Aber weil man in der Steillage keine Maschinen einsetzen kann, erfordert dieser Weinberg auch eine gehörige Portion Idealismus, Leidenschaft und Herzblut von den hiesigen Weinbauern.
Die Steinterrassen speichern die Wärme und geben sie nachts ab
Man muss nämlich mit der sechs- bis achtfachen Arbeitszeit rechnen, wenn man dort Wein anbaut. Aber man kann nicht den sechs- bis achtfachen Preis verlangen. „Das ist eine einzigartige Weinlage“, erzählt uns Winzer Andreas Guigas, Vorsitzender der Weinbauern Mühlhausen. Denn die Mauern aus Bruchstein – insgesamt sind es etwa 25 Kilometer – speichern die Sonnenwärme und geben sie nachts wieder ab.“ Aber Guigas sagt auch: „Es ist leider fast unmöglich, hier Gewinne zu erzielen.“ Die Stadt Stuttgart gibt mittlerweile 600.000 Euro im Jahr, damit die Trockenmauern restauriert und erhalten werden können. Aber das reicht eigentlich nicht, findet Guigas. Es ist bloß ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wie machen das die 18 Winzerfamilien? Wie kommen sie über die Runden? Was treibt sie an? Andreas Guigas ist hauptberuflich Heilerzieher, Christian Ambach vom Weingut Ambach arbeitet die Hälfte der Woche noch in einem größeren Bio-Weinbaubetrieb. Und Christoph Ruck vom Weingut Rux investiert viel Zeit in die Vermarktung seiner Weine, damit die Familie über die Runden kommt. Bei den meisten Winzern helfen vor allem während der Erntezeit viele Familienmitglieder ehrenamtlich mit. Was alle hier schlussendlich eint, ist die Liebe zu einem wunderschön am Neckar gelegenen Weinhang, der erstklassige Weine hervorbringen kann, wenn man ihm viel Zeit widmet. Seit zehn Jahren gibt es den Verein Weinbauern Mühlhausen mittlerweile. Sein Ziel: der Erhalt der Weinhänge im Ort, einer wertvollen, 1.300 Jahre alten Kulturlandschaft.
Die Steillagen sind Lebensraum seltener Tiere und Pflanzen
Sie ist ja nicht nur wunderschön anzusehen und mittlerweile touristisch erschlossen über den Stuttgarter Weinwanderweg. Die Steillagenhänge sind auch Lebensraum besonderer Tiere wie der Mauereidechse und des Schwalbenschwanzfalters. Sogar Feuersalamander wurden schon gesichtet. Und in der Sonne hier oben gedeihen mediterrane Kräuter und Pflanzen wie die Weinraute oder die Kermesbeere. Die Weingärtner Mühlhausen bieten mittlerweile neben Festen und Führungen auch Rebstockpatenschaften. Und sie betreuen ein Pilotprojekt, bei dem Schülerinnen und Schüler den Weinanbau in der Steillage kennenlernen. „Ich mag keine glatt gebügelten Weine“, sagt Christoph Ruck, den wir in seinem kleinen Weingut treffen. „Weine dürfen polarisieren, einen eigenen Charakter haben.“ Vor fünf Jahren haben sich Ruck und seine Frau Heike entschlossen, alles auf eine Karte, sprich: ein eigenes Weingut zu setzen und nicht mehr nur an Freunde zu verkaufen. Samstags kann man nun in der gemütlichen Scheune die Ruxweine kaufen. Mit einem Koch stellen die Rucks (aus denen irgendwann die Rux geworden sind) kulinarische Abende mit Weinverkostung auf die Beine oder sie veranstalten Weinbattles. Im August öffnet zudem ihre Besenwirtschaft. Da schenken sie ihren Wein aus und servieren eine modern interpretierte Landküche. „Das Weingut ist unser Lebenstraum“, sagt der Winzer, der mittlerweile 20.000 Flaschen im Jahr produziert. Den traditionsreichen Trollinger bauen die Rucks an, außerdem unter anderem Spätburgunder, Lemberger, Riesling und Sauvignon Blanc. Zwei Drittel ihrer 3,5 Hektar Weinhänge liegen in der terrassierten Steillage.
Auch die kleinen Wengerter-Häuschen sind bei den Steillagentagen bewirtschaftet
Dort veranstaltet der Verein jedes Jahr ein zauberhaftes Weinfest, die Steillagentage. Auf der Bühne spielt Jazz. Es gibt Maultaschen und andere Spezialitäten. Und die Gäste hocken an Biertischen mitten im Weinberg. Ein Traktor dreht zudem seine Runden und bringt die Leute in die bewirtschafteten Wengerter-Häuschen oben am Hang. Wie schön das hier ist! Wie die Menschen das Leben und ihren Wein genießen können! Nebenerwerbswinzer Andreas Guigas fasst es so zusammen: „Ich liebe die Arbeit in diesem Weinberg. Aber noch netter ist es, hier mal nichts zu tun. Wir sind der einzige Weinberg, in dem definitiv mehr getrunken als angebaut wird.“ |